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- 29. Februar 2024
„Wer will schon nüchtern sein?
– wir wollen glücklich sein!“
Wie süchtig ist unser Leben eigentlich?
Um das Thema „Sucht“ kommen wir irgendwie alle nicht herum – schon gar nicht als Therapeuten. Ich erinnere noch Kommilitonen, die während des Studiums in Suchtkliniken gejobbt haben und irgendwie war das für mich immer eine andere Welt. Damals konnte ich nicht genau sagen, was dieses „Andere“ ausgemacht hat.
Was ist eigentlich Sucht?
Die Fastenzeit hat mich motiviert, mich noch mal mit dem Thema Sucht und meinen eigenen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen. Grundsätzlich gibt es substanzgebundene Süchte und Verhaltenssüchte wie Spielsucht, Sexsucht, exzessiven Pornokonsum und alle Süchte rund ums Essen. Es gibt verschiedene Modelle, die Sucht erklären wollen. Zwei Modelle bzw. Sichtweisen möchte ich kurz kontrastieren:
- Sucht als Krankheit, die schwer bis gar nicht heilbar ist und von „Experten“ behandelt werden muss. Die Behandlung läuft über Kontrolle und absolute Abstinenz. Therapie wird erst angeboten, wenn die Leute nüchtern sind. Genau das war übrigens die Atmosphäre, die damals rüberschwappte, wenn Kommilitoninnen von Ihrer Arbeit erzählten. Im Nachhinein kann ich sagen, dass es dieser Kontrollaspekt und die rigide Atmosphäre war, die mich damals störten, ohne dass ich es benennen konnte. Es schien mir eine künstliche sterile Welt, die irgendwie nicht ins normale Leben passte.
- Sucht als Selbstmedikation: wir wählen eine Substanz oder ein Verhalten, um uns zu beruhigen, abzulenken, unseren „Schmerz“ nicht spüren zu müssen, der aus früheren traumatischen Erfahrungen resultiert und sich aktuell vielleicht als Angst oder Depression zeigt. Diese Sicht auf Sucht spricht mich deutlich mehr an. Unterstellt sie doch, dass wir zunächst aus nachvollziehbaren Motiven handeln und erstmal Gutes für uns im Sinn haben. Sucht ist etwas, was wir tun, um zu kontrollieren, wie wir uns fühlen.
Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen aus einer guten Absicht heraus konsumieren, was heißt das für unsere Arbeit, für unseren Blick auf uns und andere Menschen?
Ich schließe mich gerne der Sicht von Gabor Maté an, der sagt, Sucht ist ein Weg zu überleben, wenn alles andere scheitert – hinter Sucht liegt Schmerz. Sucht als Bewältigungsmechanismus, als Strategie meine Emotionen zu regulieren. Es ist damit gleichzeitig die Unfähigkeit mit meinen eigentlichen Emotionen zu sein – weil sie mir zu schwer, zu intensiv, zu viel erscheinen. Das ist keine bewusste Entscheidung, sondern ein unbewusster Mechanismus, der in Sekundenschnelle ohne unsere bewusste Aufmerksamkeit geschieht.
Da fällt mir eine Definition von Trauma ein, die ich in dem Zusammenhang sehr passend finde: Trauma ist zu viel (oder zu wenig/nicht genug), zu schnell und zu nah. Es passiert also etwas, was mich überflutet oder es passiert über lange Zeit etwas Essentielles nicht, was ich dringend als Kind bräuchte und das in einer Geschwindigkeit, Intensität und Nähe, die ich nicht aushalten kann. Als Kind ist es mir nicht möglich, mich diesem Schmerz zu stellen. Also entwickele ich unbewusst Anpassungsstrategien, um dem Schmerz auszuweichen. Wir tun alles, um zu überleben, irgendwie den Kopf über Wasser zu behalten.
Hilfreich damals, schädigend heute
Viele Faktoren spielen eine Rolle im Suchtgeschehen. Es gibt den (unbewussten) Drang zu konsumieren, daraufhin stellt sich zunächst ein Gefühl von Leichtigkeit ein, mit zunehmendem Konsum das Gefühl maßlos zu sein, Ärger darüber, innere Kritik und Selbstverurteilung oder Verachtung gefolgt von Scham über das eigene Verhalten. Wenn wir das alles geballt innerlich erleben, „brauchen“ wir Selbstberuhigung und wählen die Substanz, um zu wieder funktionieren. Der Kreislauf startet von vorne. Es verengt sich unsere Sicht auf die Dinge, die uns wirklich Vergnügen bereiten. Wir geraten in einen Tunnelblick.
Das Gegenteil von Sucht ist Verbindung!
Der Süchtige wird seine Rolle nicht eher aufgeben, bis geheilt ist, was er schützt. Und er schützt einen kindlichen, verletzten Teil, für den der Schmerz damals zu groß war. Dieser verletzte Teil fühlt sich wertlos, alleine, unverbunden. Er sehnt sich nach dem Gefühl gesehen zu werden für „wer er ist“. Geliebt zu werden um seiner selbst willen. Wir alle sind gemacht für Verbindung. Es geht darum, das Ruder des eigenen Lebens wieder selbst in die Hand zu nehmen. Menschen zu finden, mit denen man sich verbinden kann und den verletzten Anteil in uns zu „heilen“. Es sind die kleinen Schritte, Tag für Tag, die eine neue Identität formen.
Sind Sie neugierig, zu schauen, welche Mechanismen sich in Ihrem Leben eingenistet haben, um sich abzulenken oder zu entspannen? Möchten Sie ein kleines Experiment starten, um sich besser kennenzulernen und zu schauen, was passiert da eigentlich bei mir? Was suche ich eigentlich wirklich? Schreiben Sie mir gerne an
kontakt@paartherapie-badnauheim.de. Ich begleite Sie gerne bei diesem Experiment.
Ihre
Birgit Rolf
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